27. September 2022
Bundesarbeitsgericht: Flächendeckende Zeiterfassung ist Pflicht!

„Paukenschlag aus Erfurt“ – solche oder ähnliche Überschriften konnte man seit dem 13.09.2022 nicht nur der juristischen Fachpresse, sondern auch allgemeinen Tagespresse entnehmen.

 

Was war passiert?

Am 13.09.2022 veröffentlichte das in Erfurt beheimatete Bundesarbeitsgericht eine Pressemitteilung zu seiner Entscheidung mit dem Aktenzeichen 1 ABR 22/21. Der inhaltliche Teil dieser Pressemitteilung umfasst drei Absätze, 240 Worte und 1733 Zeichen. Diese knappen Zeilen haben es aber in sich, weshalb sie auch über die Fachpresse hinaus ein Echo erzeugten.
Das Bundesarbeitsgericht bringt darin nämlich zum Ausdruck, dass es § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG dahingehend auslegt, dass jeder Arbeitgeber verpflichtet ist, ein Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen, mit dem die geleistete Arbeitszeit von Arbeitnehmern erfasst werden kann.

Diese Verpflichtung wurde dem § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG bisher nicht entnommen. Dies ist wenig verwunderlich, verpflichtet diese Norm den Arbeitgeber doch in recht abstrakt gehaltener Form dazu, die erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes zu treffen und hierfür für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen.

Wie kommt das Bundesarbeitsgericht also zu dem Schluss eine allgemeine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung in diese Norm hineinzulesen? Hierzu gibt die Pressemitteilung einen zielführenden Hinweis. Das Bundesarbeitsgericht schreibt nämlich, dass sich die Verpflichtung zur Zeiterfassung aus dem § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG ergebe, wenn man diesen unionsrechtskonform auslege. Mit anderen Worten: Die Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit muss der in Rede stehenden Norm entnommen werden, wenn man diese im Einklang mit dem auch in Deutschland geltenden Recht der EU interpretiert.

Berücksichtig man diesen Hinweis in der Pressemitteilung muss man unweigerlich an eine andere viel beachtete Gerichtsentscheidung denken, und zwar das Urteil des EuGH vom 14.05.2019 (C-55/18). In diesem Urteil hatte der EuGH festgehalten, dass Arbeitgeber zu verpflichten seien, ein System einzuführen, mit dem die tägliche Arbeitszeit eines jeden Arbeitnehmers aufgezeichnet werden kann. Die für sein Urteil herangezogenen EU-rechtlichen Bestimmungen dienen dem Arbeits- und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer. An dieser Stelle scheint das Bundesarbeitsgericht jetzt anzusetzen und ein Zeiterfassungssystems als erforderliche Maßnahme des Arbeitsschutzes einzustufen, die der Arbeitgeber im Rahmen der von ihm vorzuhaltenden Organisation umsetzen muss.

 

Warum ist das ein Paukenschlag?

Die Pressemitteilung sorgt für erheblichen Aufruhr, weil im Nachgang zu der EuGHEntscheidung überwiegend, und zwar sowohl in der Politik als auch in der juristischen Fachliteratur, angenommen wurde, dass es noch eines Umsetzungsaktes des deutschen Gesetzgebers bedürfe, um die vom EuGH geforderte Verpflichtung zur flächendeckenden Zeiterfassung in Deutschland einzuführen. Eine ausdrückliche Verpflichtung zur Zeiterfassung sah das Gesetz in Deutschland bisher nämlich nur für bestimmte Branchen oder Arbeitnehmergruppen, z.B. sogenannte Minijobber, und für die über acht Stunden hinausgehende werktägliche Arbeitszeit vor. Eine Umsetzung des EuGH-Urteils ist in Deutschland bisher nicht erfolgt, auch wenn in unterschiedlichen Bundesministerien hierzu bereits Diskussionen geführt worden sind, sodass man davon ausgehen durfte, dass keine Verpflichtung zur flächendeckenden Zeiterfassung bestand. Dies hat sich nun augenscheinlich geändert. Das Bundesarbeitsgericht ist der Politik zuvorgekommen und hat sich – zumindest nach der Pressemitteilung zu urteilen – als „Ersatzgesetzgeber“ und „Umsetzer“ betätigt.

 

Wie geht es jetzt weiter? Was sollten Arbeitgeber tun?

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass bisher nur die Pressemitteilung zu der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vorliegt. Bis die ausführlichen Entscheidungsgründe veröffentlicht werden, wird noch etwas Zeit vergehen. Es wird interessant sein abzuwarten, ob das Bundesarbeitsgericht in den Entscheidungsgründen nähere Ausführungen zur Zeiterfassungspflicht macht: Gilt diese ausnahmslos für jedes Unternehmen und jedes Arbeitsverhältnis? In welcher Form haben die Aufzeichnungen zu erfolgen? Kann die Aufzeichnungspflicht an die Arbeitnehmer delegiert werden? Dies sind nur einige der Fragen, auf welche das Bundesarbeitsgericht hoffentlich Antworten gibt.

Gegenwärtig ist allerdings erst einmal davon auszugehen, dass alle Arbeitgeber verpflichtet sind, ein Zeiterfassungssystem einzuführen, dass die geleistete Arbeitszeit der Arbeitnehmer vollständig erfasst. Zur Qualität und Ausgestaltung des Zeiterfassungssystems gibt die EuGHEntscheidung aus dem Jahr 2019 gewisse Hinweise, denn der EuGH verlangt, dass das System „objektiv“, „verlässlich“ und „zugänglich“ sein müsse. Eine Übertragung der Aufzeichnungspflicht an die Arbeitnehmer dürfte möglich sein, da dies bei anderen Aufzeichnungspflichten auch als zulässig erachtet worden ist. Der Arbeitgeber muss aber durch organisatorische Vorkehrungen und Überwachung sicherstellen, dass die Aufzeichnungspflichten erfüllt werden.

Arbeitgeber sollten sich daher mit dem Gedanken vertraut machen, entsprechende Zeiterfassungssysteme einzuführen bzw. bestehende Zeiterfassungssysteme dahingehend zu überprüfen, ob sie den vom EuGH aufgestellten Anforderungen genügen. Insbesondere bei der Einführung oder Änderung EDV-gestützter Zeiterfassungssysteme dürfen dann allerdings die Mitbestimmungs- und Beteiligungsrechte der Betriebsräte nicht vergessen werden.

 

Was passiert, wenn es kein Zeiterfassungssystem gibt?

Noch ist nicht abschließend absehbar, welche Konsequenzen es für Arbeitgeber haben könnte, wenn sie kein Zeiterfassungssystem einführen. Denkbar sind allerdings sowohl öffentlich-rechtliche Maßnahmen (z.B. Bußgelder) als auch individualarbeitsrechtliche Auswirkungen im Verhältnis zu einzelnen Arbeitnehmern. Insgesamt dürfte es schwieriger werden, Arbeitszeitsysteme flexibel auszugestalten (Stichwort: Vertrauensarbeitszeit) und für Arbeitsformen ohne klassische Anbindung an den Betrieb (Stichwort: Home-Office) müssen Lösungen erarbeitet werden.

Abschließend bleibt zu hoffen, dass der Gesetzgeber die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zum Anlass nimmt, die sich ergebenden Fragen im Rahmen einer ausgewogenen und durchdachten Gesetzesinitiative zu beantworten.

Zu diesem spannend und praxisrelevanten gesamten Themenkomplex beraten wir Sie gerne!

Johann Moritz Leverkühn
Rechtsanwalt | Fachanwalt für Arbeitsrecht
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